Quelle: NachDenkSeiten
Kinder des digitalen Zeitalters leiden unter neuartigen Formen der Missachtung.
Eltern betrachten ihr Kind offenbar nicht mehr als Geschenk, sondern als eine Art Bio-Aktie, von der eine gute Performance erwartet wird. Seit die Bergwerke stillgelegt sind und keine Kohle mehr gefördert wird, hat man die kindlichen Gehirne als „Ressource“ und „Humankapital“ entdeckt. Schon wird von Frauen berichtet, die ihre schwangeren Bäuche mit Kopfhörern beschallen. Schluss mit dem zweckfreien Spiel am Bach und im Sandkasten, die Konkurrenz schläft nicht: Andere Kinder haben mit zwei Jahren bereits 600 englische oder chinesische Wörter aufgesogen und dabei ihre „Synapsen optimal vernetzt“. Es erscheinen Ratgeber, die propagieren: „Ein Leben lang für Vorsprung sorgen.“ Mutterliebe und eine vertrauensvolle Atmosphäre sind nicht länger um ihrer selbst willen da, sondern fördern die Herausbildung einer leistungsfähigen neuronalen Struktur. Von Götz Eisenberg[*].
Neulich saß ich auf dem Balkon und genoss die Sonne. Von der Straße drang das Schreien eines Kleinkindes herauf. Eine junge Mutter schob ihr Kind in einem Designer-Kinderwagen vor sich her. Sie trug ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und eine großflächige Sonnenbrille. Sie telefonierte mit ihrem Handy. Das Schreien des Kindes wurde immer wütender und lauter. Die Mutter hielt an, beugte sich hinab und nestelte aus einem Einkaufsnetz eine Süßigkeit hervor, die sie dem Kind in den Mund stopfte. Gierig lutschte es die Süßigkeit in sich hinein. Die Frau schob den Wagen weiter und setzte ihr Telefonat fort. 150 Meter weiter begann das Schreien von neuem. Wieder folgte der Griff ins Einkaufsnetz, wieder bekam das Kind „das Maul gestopft“. Lachend sagte die Mutter etwas in ihr Telefon und ging weiter. Weiterlesen